Karin Stadelmann: «Die Abklärung ist ein Reizbegriff»
Die Fakten: Der Sonderschulbedarf für Kinder steigt seit einiger Zeit stetig an (Ein Beispiel von vielen: Statistik zur Sonderpädagogik Kanton Zürich). Gemeinden investieren Jahr für Jahr mehr Geld in ihre Schulen, während die Wartezeiten für Abklärungen von Kindern Rekordhöhen erreichen und die Diagnose «Verhaltensauffälligkeiten» zunehmen.
Warum das wichtig ist: Die Frage, woher der erhöhte Sonderschulbedarf kommt, ist äusserst umstritten. Faktoren wie die Digitalisierung, der integrative Unterricht und moderne Erziehungsmethoden spielen eine bedeutende Rolle.
Der «Nebelspalter» hat Karin Stadelmann zu diesem Thema befragt.
O-Ton Stadelmann: «Heutzutage stehen Eltern und Schulen vor vielfältigeren Anforderungen als früher. Beispiele hierfür sind die Digitalisierung, verschiedene Vorstellungen von Erziehung und unterschiedliche Familienmodelle, die für alle Beteiligten neue Herausforderungen mit sich bringen. Insbesondere die Corona-Pandemie hat diese Faktoren noch verstärkt.»
Ein häufiges Bild im Alltag: Das Kind mit dem Tablet in der Hand. Die Digitalisierung hat in nahezu allen Lebensbereichen an Bedeutung gewonnen, besonders seit der Pandemie auch in den Schulen. Aktuell mangelt es in der Forschung noch an Studien zur Verbindung von Erziehung und Digitalisierung und somit an Fortschritten.
O-Ton Stadelmann: «Die Forschung im Bereich der Digitalisierung und deren Auswirkungen auf die Erziehung und das Verhalten hat noch viel vor sich. Derzeit fehlen klare Daten, die den Einfluss der digitalen Welt auf Erziehung und Schulentwicklung aufzeigen.»
Der Begriff «Abklärung» ist seit einigen Jahren geläufig, wenn es um Schulkinder geht, die Schwierigkeiten im Verhalten und beim Lernen haben. Derzeit warten Eltern bis zu zwölf Monate auf einen Abklärungstermin für ihr Kind, obwohl viele sich dagegenstellen. Karin Stadelmann erläutert, dass das Wort «Abklärung» bei vielen Eltern Alarm auslöst, da sie befürchten, dass ihr Kind als nicht normal eingestuft wird.
O-Ton Stadelmann: «Die Abklärung ist ein Reizbegriff, der bei vielen Eltern sofort Alarm und Angst auslöst. Dieses Stigma haftet der Abklärung an, belastet die Eltern, das Kind und auch Lehrkräfte. Das verlängert den Prozess bis gute Unterstützungsmassnahmen gefunden werden. Besonders Lehrkräfte sollten genauer hinschauen und sorgfältig unterscheiden, ob es sich um eine Verhaltensauffälligkeit handelt, die effektiv untersucht und spezifisch unterstützt werden sollte, oder um ein vorübergehendes Problem, das direkt mit dem Kind und den Eltern gelöst werden kann. Um sich selbst zu schützen, verweisen einige Lehrer teilweise zu schnell auf eine Abklärung.»
Auch der integrative Unterricht wird als mögliche Ursache für die steigenden Sonderschulzahlen diskutiert. Karin Stadelmann sieht den integrativen Ansatz grundsätzlich positiv, fordert jedoch zusätzliche Massnahmen zur Entlastung, wie zeitlich begrenzte Förderzeiten durch Lerninseln. Sie kritisiert zudem die unzureichende praktische Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen im Bereich der Elternarbeit.
O-Ton Stadelmann: «Die Grundidee des integrativen Unterrichts ist gut, aber es braucht mehr Massnahmen zur Entlastung, wie Lerninseln. Wir können nicht alles im Bereich der Erziehung der Schule ab delegieren. Auch die Lehrerausbildung sollte realistischer über die Herausforderungen im Schulalltag informieren und mehr praktische Aspekte vermitteln, besonders zur Elternarbeit.»
Dieser Artikel wurde am 8. August im Nebelspalter publiziert.